Wie privilegiert ich bin, wird mir jeden Morgen bewusst, wenn ich am Olgaeck, an der großen Kreuzung auf die Ampel warte. Anders als in meiner Nachbarschaft im Stuttgarter Westen ist hier eine bunte Mischung an Menschen unterwegs, die weniger "gestopft" sind. Obdachlose Frauen und Männer, Menschen mit psychischen oder physischen Erkrankungen, Menschen mit wenig oder kaum Geld. Der TrottWar-Verkäufer vor dem Edeka lacht mir freundlich zu, am Monatsanfang kaufe ich ihm eine neue Ausgabe ab. Ein paar Meter weiter wandelt sich die Olgastraße ins Gerichtsviertel mit den großen, gut erhaltenen Altbauten und den Anwaltskanzleien und den Versicherungsgesellschaften. Dort ist auch das Verlagsbüro in dem ich arbeite: Im "besseren Teil" der Olgastraße. Und immer wieder, beim Anstehen an den Kreuzungsampeln, denke ich, wie viel Glück ich habe. Mein Job finanziert mir einen gewissen Lebensstandard, ich habe Rückhalt von Familie und Beziehung, ich habe Freunde. Ich hatte Möglichkeiten und Chancen in meinem Leben. Ich bin gesund.
Ich denke mir: Unsere Gesellschaft lebt von einem Miteinander, nur durch ein Miteinander bleiben wir menschlich - und irgendwie auch lebendig. Was ich geben kann ist mehr als einen Fünfer für den TrottWar-Verkäufer, ich kann mich einbringen. Und hier habe ich die Straßen-Universität Stuttgart gefunden, die im vergangenen Jahr, 2022, gegründet wurde. Ich bin sofort begeistert von diesem Konzept - ich will mitmachen!
Was ist die Straßen-Universität Stuttgart?
Die Straßen-Universität Stuttgart ist ein Projekt des gemeinnützigen diakonischen Sozialunternehmens Neue Arbeit. Die Aufgabe der Straßen-Universität ist es, in sozial benachteiligten Gebieten inklusive Bildungsangebote für alle Interessierten anbieten. Die Idee ist nicht nur, dass prekär benachteiligte Menschen als Lernende teilnehmen, sondern auch als Lehrer ihre Erfahrungen und ihr Wissen teilen. Das Angebot umfasst z. B. Yogakurse, Kochkurse, Besuche im Theater Rampe, Ausstellungsbesuche in Museen und Galerien und vieles, vieles mehr, seht selbst nach im Programm!
Die Idee der Straßenuniversität ist nicht neu, in der Vergangenheit gab es bereits ähnliche Initiativen in anderen Städten und Ländern, z. B. die Free University New York oder das Kollektiv Prinzessinnengärten in Berlin, welches Urban Gardening und die Selbstversorgung für alle ermöglicht. Die Straßenuniversität Stuttgart ist so Teil eines wachsenden globalen Netzwerks von Straßenuniversitäten und ähnlichen informellen Bildungsinitiativen, die sich für die Schaffung von inklusiveren und gerechteren Bildungssystemen einsetzen.
"Bildung für alle mit allen!" Slogan der Straßen-Universität Stuttgart
Mein Workshop bei der Straßen-Universität
Auf meine Nachfrage hin: Niemand der Anwesenden im Begegnungsraum im Leonhardsviertel ist wegen des Themas gekommen: "Meine LebensGeschichten - kreatives und biografisches Schreiben". Die meisten sind wohl da, weil sie Gesellschaft suchen. Der ein oder die andere aus Neugierde und weil das Gesamtprogramm der Straßen-Universität so bunt und vielseitig ist. Nicht alle kommen pünktlich, nicht alle schreiben aktiv mit, manch einer und manch eine kaut erstmal ratlos auf dem Stift. Es braucht Zeit, bis sich meine Teilnehmer in das neue Terrain einfinden: Sie sollen über sich schreiben, und sie dürfen über sich erzählen. A. seufzt lange vor dem leeren Blatt. Aber dann kommen sie doch, seine Erinnerungen und seine Betrachtungen. H. hört nur zu. Leise, zurückgenommen sitzt er dabei, aber wenn er was sagt, dann ist es mit Intelligenz und Herzenswärme. Aus den wenigen Sätzen, die H. über sein eigenes Leben erzählt, wird klar, dass sein Leben nicht immer von Glück gezeichnet war. Dass das Glück wohl eher selten an seine Tür geklopft hat. Und dennoch spricht aus ihm eine Menschenliebe, sie spricht so leise, dass man ganz genau und konzentriert zuhören muss. Das ältere Ehepaar notiert zu jeder Schreibaufgabe nur Stichworte, während andere eifrig Seiten füllen. Aber sie erzählen dann doch beide von ihrem jeweiligen Leben. Zu Beginn zurückhaltend, etwas unsicher, ob sie so viel von sich preisgeben wollen von ihren persönlichen Erinnerungen, von wertvollen und von verletzlichen Momenten. Aber die Gruppe trägt sie, und nach und nach fällt das Erzählen leichter. Gefühle kommen hoch und dürfen da sein. Am Ende sind beide Senioren überrascht und beseelt, dass ein Nachmittag, zu dem sie sich angemeldet hatten schlicht aus dem Grund, weil sie Zeit hatten, ihnen so gut getan hat.
Ich mag sie alle, die Menschen, die mit rauen Kanten, mit gebrochenen Biografien und die gut frisierten, die alten und die jungen, die eloquenten und die ganz stillen. Ich versuche allen einen Stimme zu geben, ich versuche allen die Gelegenheit zu geben gesehen zu werden, gehört zu werden, "da" zu sein. Ich möchte, dass jeder Mensch ein wenig bereichert nach Hause geht. Und wie so oft in meinen Workshops und ganz besonders hier, bin ich diejenige, die am meisten bereichert heim geht. Beschenkt.
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